Freitag, 11. Oktober 2019

Grind your way mit Nervous Impulse.


In seinem Essay "Waves, Flows, Streams" argumentiert der deutsche Medienphilosoph Rudolf Maresch, daß "Sound" erst durch lebendige Maschinen geschleust werden müsse, damit er überhaupt wahrnehmbar wird" (¹). Dieser hochkomplexe Vorgang, der sowohl artifizielle Hilfsmittel als auch Gehör und Gehirn des Menschen benötigt, würde andererseits ja aber auch bedeuten, daß eine gewisse Art von "Rohmaterial" ständig zugegen sein müsste, ein ununterbrochener Strom von Lärm, Noise oder Krach, der bei Bedarf von kundigen Händen in konsumierbare Momentaufnahmen verwandelt wird.


Daran muß ich oft denken, wenn ich Grindcore höre. Die Komplexität unbehandelten Krachs wird hier zu einer raffinierten, vielschichtigen Kunstform, ja zu einem vielstimmigen Instrument, bei dem die menschliche Stimme in Beziehung zu Gitarre, Bass und Schlagzeug nur insofern eine Rolle spielt, indem sie ein weiteres, gleichberechtigtes Teil in einem hochenergetischem Noiseteppich wird.

Das ist live eine grandiose Erfahrung, eine absolute Katharsis. Daß sowohl Musiker als auch Grindcore-Fans ziemlich friedliche, nette Menschen sind, versteht sich von selbst. Bei einem Konzert der mexikanischen Formation Disgorge (deren Releasecover ich unter keinen Umständen jemals irgendwo posten würde) entpuppten sich die Bandmitglieder als ihre Musik extrem ernstnehmende Handwerker und ausserdem als unglaublich liebe Kuschelbären, die sich bei so ziemlich jedem Zuschauer für sein Kommen persönlich mit einem innigen Händedruck bedankten.

Disgorge (MEX).


Ein anderes,  interessantes Phänomen erlebte ich einmal bei einem Gig der aus Philadelphia stammenden Grindcore-Band Total Fucking Destruction (übrigens ebenfalls wirklich lustige Zeitgenossen) - die hochenergetische, kurze und unfassbar laute Melange aus hyperschnellen Blastbeats, Gitarrenzersägerei und hohem Kreischen erzeugte einen Sog, der uns begeisterte Fans richtiggehend physisch anzog und uns in den kurzen Pausen dann jedesmal wie betrunken zurücktaumeln ließ.

Diese extreme Körperlichkeit von Grindcore erfährt man natürlich zuhause vor der Stereoanlage (oder dem Computer) kaum; Grindcore-Bands live erleben zu können ist allerdings aufgrund der fehlenden Kommerzialität dieses Sub-Sub-Genres auch eher ein Glücksfall. Interesse an neuen Bands in dem Bereich habe ich natürlich trotzdem ständig - hin und wieder erwische ich da eine mir unbekannte Band auf youtube, deren Musik mich sehnsüchtig nach einem Live-Erlebnis macht. So vor einiger Zeit geschehen, als ich die kanadische Formation Nervous Impulse entdeckte; die werde ich realistisch betrachtet vermutlich niemals live zu sehen bekommen. 


Egal. Alleine deren von mir voller Begeisterung zusammengesammelte Tonträger (hauptsächlich Split-Releases mit befreundeten Genrebands) bewirken bei mir diesen gewissen Zustand von violently happy, also die Vorstellung, glücklich lachend irgendwelche Dinge zu zertrümmern oder mit dem Auto voller Freude mit 200 km/h gegen einen Baum zu brettern (keine Sorge, daß alles spielt sich nur in meinem Kopf ab). Aber Nervous Impulse haben getreu ihres Bandnamens diese hypernervöse Energie, die mich wirklich keine Sekunde still sitzen lässt. 


Und was auffällt: Die kinetischen Explosionen von Nervous Impulse kommen komplett ohne Splatter-Aufschlitz-Fantasien aus. Im Gegenteil: Sänger (oder eher: Brüllmonster) Eric Fiset ist ein erfahrener Sozialarbeiter, der selbst erlebte Mißstände in seinen Lyrics verarbeitet, z.b. bei "Dead Jeremians": "I’m an older guy, I’m a social worker and the 'Dead Jeremians' song is about a true story. I used to be co-director of a youth centre called 'House of Jeremy'. It was a rehab centre with a human approach for people with drugs and behavioural problems. One day, the government cut our funds, closed the centre and take 35 teenagers and dropped them on the streets with a bus ticket as the end of their therapy. Many committed suicide and went down as homeless people. Government sacrificed these kids for budgetary consideration but acted with no regard to human life. It’s like a scar on my mind. I would never forgive the government for that, never!" (²)

Diese Wut, dieser Groll - anscheinend ein ultrastarker Motor für das hasserfüllte Gebrüll, welches einem wirklich unter die Haut geht. Untermalt wird das durch den brachialen Lärm-Soundtrack einer hervorragend agierenden Formation, die durch die Untiefen kompliziertester Rhythmuswechsel mühelos gleitet wie ein schnittiges Rennboot durch aufgewühlte See. Was für eine geniale Band. Die Releases von Nervous Impulse muss man sich wirklich zusammensuchen, die Mühe lohnt sich aber auf jeden Fall. Ein guter Start ist die zum Beispiel die Split-CD "The Daily Grind", zusammen mit den Bands Anüs und Unsu; oder auch das allerneueste Werk - natürlich wieder ein Split, diesmal mit Trepan'Dead, S​.​I​.​R. und MoreGore und dem schönen Titel "Grind Your Way 4 way", gibt es alles hier auf Bandcamp zu erwerben.



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Nervous Impulse auf Facebook.

¹ Essay in "Soundcultures" - Kleiner/Szepanski, Edition Suhrkamp, 2003

² Auszug aus einem Interview mit dem "Extreminal Webzine" 2010, http://www.extreminal.com

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